Her mit der Inspektionsbrille!
Ganz regelmäßig versuche ich mit einer imaginären “Inspektionsbrille” in den Stall zu fahren. Ich schaue mir die Umgebung und mein Pferd an, als wäre ich eine außenstehende Person, die die Gesamtlage bewerten soll. Vielleicht findet ihr die Idee gut und probiert es auch mal bei euch aus? Viel zu oft übersehen wir nämlich Dinge, weil wir uns einfach an sie gewöhnt haben.
1. Box/Paddock/ Auslauf/ Weide.
Wie ist mein Pferd untergebracht? Findet es eine saubere, geschützte Stelle, um zur Ruhe zu kommen? Kann es sich an der Umzäunung verletzen? Ist die Fläche groß genug für die Anzahl der Pferde? Kann es sich unterstellen, sowohl bei Regen und Wind, als auch bei Sonne? Wie sieht der Boden/ die Einstreu aus?
2. Futter.
Was bekommt mein Pferd täglich zu essen? Wird vielleicht das falsche Futter gegeben, oder stimmt die Menge nicht mit dem Gewicht des Pferdes überein? Die Menge des Futters (Kraftfutter) sollte sich nicht nur nach der Größe des Pferdes, sondern auch nach seinen Aufgaben richten. Ein Pferd, das wenig geritten wird und meist gemütlich unterwegs ist, braucht eine andere Futterzusammensetzung als ein aktives Sportpferd.
Artgerecht zu füttern bedeutet dem Pferd sehr viel Raufutter zu bieten, ideal wäre eine Art Selbstbedienungsbar. Für leichtfuttrige Pferde empfehle ich Heunetze, damit schlägt man zwei Fliegen mit einer Klappe: Das Pferd ist beschäftigt und frisst langsamer und somit länger. Fresspausen, die länger dauern und über drei bis vier Stunden hinausgehen, können bei Pferden zu schmerzhaften Magengeschwüren führen, die wir oft viel zu spät oder gar nicht bemerken. Zusätzlich sollte das Pferd natürlich jederzeit an frisches Wasser kommen.
3. Verhalten.
Legt mein Pferd die Ohren an, wenn ich mich ihm nähere? Dreht es sich um oder muss ich es sogar einfangen? Ist es neugierig, hat es einen wachen, klaren Blick? Zeigt es sein Schmerzgesicht? Ist mein Pferd in seiner Herde glücklich? Eine funktionierende Herde erkennt man daran, dass sich die Tiere sozial verhalten, gegenseitig die Mähne und das Fell kraulen und die Rangordnung nicht ständig neu ausgefochten werden muss. Die Körpersprache wird von allen Tieren geachtet und verstanden, und meist reicht das Ohrenspiel aus, um ein anderes Pferd zu bewegen. Bisswunden, viel Unruhe und aggressives Verhalten sind deutliche Anzeichen dafür, dass es in der Herde Probleme gibt.
Wie verhält sich mein Pferd beim Putzen? Ist es aggressiv, wenn ich an bestimmte Körperstellen komme? Drückt es den Rücken weg, wenn ich neben der Wirbelsäule entlang streiche? Ist es kopfscheu? Schnappt es beim Satteln in meine Richtung, oder beißt sich beim Gurten an etwas anderem fest/ reibt mit den Zähnen? All dies können Anzeichen für unpassendes Equipment, Schmerzen beim Pferd oder eine Krankheit sein. Vielleicht ist es aber auch in Anzeichen dafür, dass wir unser eigenes Verhalten dem Pferd gegenüber überdenken sollten. Wenn ich mein Pferd von der Wiese, dem Paddock oder aus der Box hole, bleibe ich immer weiter entfernt stehen und lasse es die letzten Schritte selbst auf mich zu gehen. Das ist unser Ritual geworden und mein Pferd trifft damit selbst die Entscheidung etwas mit mir machen zu wollen. Stimmt etwas nicht, würde ich es dann vielleicht schon bemerken noch bevor ich mein Pferd überhaupt angefasst habe.
4. Sattelzeug.
Natürlich ersetzt ein Youtube Video den Sattler nicht – keine Frage! In meinen Augen kann ein unpassender Sattel allerdings auch von blickgeschulten Ottonormalreitern erkannt werden, ein passender Sattel hingegen sollte wirklich lieber von einem Fachmann als “passend” bezeichnet werden. Im Internet findet man einige Tipps, wie ein unpassender Sattel erkannt wird. Hilfreich finde ich den Leckerli-Test, bei dem man ein rundes Leckerli in die tiefste Stelle des Sattels rollen lässt, während der Sattel auf dem Pferderücken liegt. Bleibt das Leckerli tatsächlich im Schwerpunkt des Sattels liegen? Das Sattelblatt darf auf keinen Fall über die letzte Rippe des Pferdes hinausgehen, und er sollte nicht wackeln, sondern auch in höheren Gangarten an Ort und Stelle bleiben. Unnatürliche weiße Flecken im Fell und Dellen/Kuhlen am Rücken sind weitere klare Anzeichen für einen unpassenden Sattel. Ein lockeres und gleichmäßiges Gangbild des Pferdes sollte unter dem Sattel möglich sein. Wehrt sich mein Tier gegen den Sattel, hilft auch das OK des Sattlers nicht, und die Meinung des Pferdes sollte unbedingt ernst genommen werden. Oft sehe ich auch Sattelgurte, die dem Pferd nicht passen, weil sie zwar die Sattelgurte erreichen, aber in den Ellenbogen des Pferdes scheuern oder irritieren. Übrigens: Auch baumlose Sättel müssen angepasst und überprüft werden!
5. Zäumung.
Die Zäumung kann ebenfalls unpassend sein. Lässt sich mein Pferd problemlos trensen? Nimmt es das Gebiss gerne an? Ist die Größe des Gebisses und auch die Art passend für mein Pferd? Brauche ich tatsächlich einen Sperrriemen? Mittlerweile empfinde ich den Sperrriemen sowohl optisch als auch beim Reiten als extrem störend. Er kaschiert Fehler des Reiters, und verbietet dem Pferd seine Meinung zu sagen, wenn die Reiterhand zu hart ist, oder das Gebiss nicht “vertrauensvoll” angenommen wird. Ich habe mich vor zwei Jahren für eine gebisslose Zäumung entschieden. Auch hier gilt, die richtige Wahl der Zäumung individuell für das Pferd auszusuchen, und es korrekt zu verschnallen. Oft wird der Nasenriemen zu tief eingestellt, was sehr schmerzhaft für das Pferd werden kann. Im Internet findet man hilfreiche und (wie immer) auch weniger hilfreiche Tipps zu den verschiedenen Zäumungen. Ein bisschen zu stöbern lohnt sich allemal, schließlich kann man immer was dazulernen. Bei Unsicherheiten sollte unbedingt ein Fachmann/ Reitlehrer gefragt werden, der sich mit den verschiedenen Wirkungsweisen auskennt, und vor allem erkennt, wenn das Pferd mit einer Zäumung nicht glücklich ist.
Die meisten Punkte meiner Inspektionsliste können von uns Pferdebesitzern selbst verbessert werden. Es liegt an uns Fehler im eigenen System zu erkennen. Mit Sicherheit gibt es noch viel mehr Punkte, die ich noch gar nicht auf meiner Liste habe. Falls ihr noch gute Ideen habt, könnt ihr mir in den Kommentaren davon berichten, und ich nehme sie in die Liste mit auf.
Unserem Pferd zuliebe sollten wir uns also regelmäßig von unserer rosafarbenen Ponyhof-Brille befreien, um mit der Inspektionsbrille klar Schiff zu machen. Anschließend spricht ja nichts dagegen, wieder in unsere Glitzerwelt einzutauchen, in der es nur glückliche Pferde und fehlerlose Reiter gibt! 😉
Ich war heute nach knapp 2 Wochen Krankheitsausfall wieder im Stall. Und habe die Erfahrung gemacht, dass Abwesenheit die optimale Voraussetzung für die Inspektionsbrille ist. Mir sind Dinge aufgefallen und ich habe mich gefragt: "War das schon immer so oder ist das neu?" Betriebsblindheit durchbrochen 🙂 Ist glaube ich so viel einfacher, als aus dem Alltag heraus zu versuchen, Abstand zu gewinnen. Was natürlich nicht heißt, jetzt bewusst vom Pferd wegzubleiben. 🙂 Nur mal so ein Gedanke 🙂